Jeder Beginn kommt mit einem Tod | Vollmondblog #9 | Jan.23

Mein Freund der Tod.

Sterben war für mich jahrelang eine Art Sehnsucht nach Zuhause. Ich hatte Angst vor dem Leben, weil ich glaubte es sei nur Leid und Abhängigkeit.
Der Tod war für mich ein sicherer Anker. Etwas, was wirklich da war immer und überall. Ich sah die Schönheit in der Vergänglichkeit. Die Hoffnung in der Veränderung und doch wusste ich, dass ein Leben nur so viel Wert hat, wie wir es mit Leben füllen. Damals war in mir dieser Wiederspruch. Ich wollte das Leben in vollen Zügen geniessen und ich wollte schnell meine irdische Aufgabe erledigen um endlich Nachhause in den Tod zu gehen. Ich war ein Kind und doch schon vom Leben müde.
Ich war ein Teenie und glaubte nur Ballast zu sein. Ich war voller Leben und doch nie ganz auf Erden.

Ich war nie ganz auf Erden, weil es einen Teil gab, zu dem ich gezwungen wurde, ihn zu vergraben. Ganz tief in mir vergrub ich meine älteste Wahrheit, niemand nicht mal ich selbst sollte mich je daran erinnern. Denn niemand sollte mich je wieder so verletzten können, wie es das Leben tat.

Doch immer wenn ein geliebtes Lebewesen starb, wenn die Sehnsucht wieder spürbar wurde... immer dann gab es ein kleines Flimmern.

Ich sah dem Tod täglich in die Augen, sah seine Seele, horchte seiner Stimme. Ich weiss die Leere ist seine Sanftheit. Er ist mein ältester Freund. Nie hatte ich Angst vor ihm. Auch nicht vom Sterben.

Bis mich eines Tages bedingungslose Liebe eines Menschen fand. Natürlich wurde ich nicht zum ersten Mal geliebt, doch dieser Mensch war der Erste, der auch meine älteste Wahrheit in mir sehen konnte. Die, die ich selbst vor mir verbarg. Dieser Mensch, der ebenso mit dem Tod befreundet war wie ich, zeigte mir, dass er bei mir sein würde so loyal wie unser Freund der Tod.
Dieser Mensch machte mich vertraut mit einer anderen Seite des Lebes. Wir wurden Freunde, Familie, Geliebte, Eheleute. Verbündet mit Tod und Geburt, Freud und Leid, Liebe und Angst, Leben und Stillstand.

Das Leben begann so wichtig zu werden wie es mein Freund der Tod war und so waren der Mensch den ich geheiratet hatte und ich, bereit für unsere Scheidung. Wir wurden Geschiedene, Freunde und irgendwann wieder Familie.
Ich lernte, dass Leid und Freude zusammen existieren können.

Da war ich mit meinen Freunden Tod und Leben und traff eine Gestalt durch die ich schliesslich Abhängigkeit kennen lernte um auch diese Angst zu heilen. Wir wurden Geliebte, Opfer, Täter und nach Jahren der Qual verliess ich die Abhängigkeit. Wir wurden wieder Fremde.

Mein Freund das Leben, zeigte mir vortan so viele Möglichkeiten. In meiner Überforderung versuchte ich zu kontrolieren was nicht kontrolierbar ist: mein Freund das Leben. Doch er schenkte mir wonach ich mich sehnte, selbst dann wenn es nicht für mich war: Eine Person die mich sieht, wie der Mensch den ich einzt geheiratet hatte. Doch diese Person sah noch viel mehr und so lernte ich die Verletzlichkeit kennen.

Diese Person inspirierte mich, in meine abgeschottensten Ecken zu schauen. Wir waren Geliebte, Freunde und dann Fremde. Als sie mich mit Worten der Liebe verliess, war mein Freund der Tod zum ersten Mal da ohne meine Sehnsucht zu sterben. Denn da war auch mein Freund das Leben. Mein Leben und so nahm ich all meinen Mut zusammen und lies mein vergangenes Ich sterben.

Ich lies mein altes Selbst in Liebe los.
Ich starb um wiedergeboren zu werden.

Endlich begriff ich meine Sehnsucht zum Tod. Ich begriff, dass ich immer nur sterben wollte um wirklich zu leben.
Ich fand mein Zuhause, dort wo ich es nie gesucht hätte: Hand in Hand mit meiner ältesten Wahrheit zusammen. Erst als ich mich an diese Warheit, diese Erinnerung erinnern konnte, erst dann konnte ich die Kontrolle ablegen und dem Leben vergeben. Und so wandle ich heute auf Erden mit beiden Füssen voller Leben. Geniesse den Wiederspruch und all die Gefühle und Lebewesen. Vertaue dass das Leben mir schenkt, was zu mir gehört.
Weiss, dass nicht ein Gefühl oder Zustand ein anderes Gefühl oder Zustand lebenswert macht, sondern alle Gefühle und Erfahrungen gleich wichtig sind.

Grüsse zum vollen Mond

Jean de Carvalho